Elektronische Patientenakte ePA und Opt-Out-Regelung 

Der nachfolgende Text zur Digitalisierung des Gesundheitswesens seit 2005 richtet sich an Patientinnen und Patienten und greift deren Fragen und Vorstellungen auf. Der Beitrag beruht auf 18 Jahren  Beschäftigung mit diesem Thema aus der Perspektive des Hausarztes. Er beruht auf einem persönlichen Archiv mit etwa 3300 Quellen-Texten. Über die Jahre etliche eigene  Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften und Fachzeitschriften. Parallel dazu Einarbeitung in Digitale Technologien zur Datenverwertung, mit Hilfe von IT-Agenturen und IT-Spezialisten.  Aktuelle Relevanz hat das Thema, weil vor wenigen Tagen das Bundeskabinett Gesundheitsminister Lauterbachs Digitalgesetze bestätigt hat. Insbesondere: Elektronische Patientenakte für ALLE ab Januar 2025.

 

Ich selbst bin seit 1997 Hausarzt, damals der erste weit und breit mit voll-digitalisierter Praxis. Sinnvolle, alltagstaugliche und patientenorientierte Technik ist klasse. Digitalisierung, die vorwiegend anderen Interessen dient, ist gefährlich. Seit 2019 habe ich als Praxisinhaber um 23.000 EUR Strafe/ Honorarabzug hinnehmen müssen, weil ich die Praxis NICHT habe „anschließen“ lassen. Letzteres wird im Herbst unvermeidlich, denn es gab nur eine Möglichkeit, die Praxis zu meinem Rentenalter hin NICHT schließen zu müssen, nämlich die Übernahme durch ein (erfreulicherweise kommunal orientiertes) MVZ, dessen ärztlicher, angestellter Leiter ich inzwischen bin. Andernfalls hätten 1500 bis 2000 PatientInnen keinen Hausarzt mehr gehabt.

 

Der Text ist fünf Seiten lang und erfordert Konzentration. Ich verspreche Ihnen, es ist spannend, die Mühe lohnt sich, und es betrifft SIE. Der Textumfang ist erforderlich, denn eine Kurzfassung ohne Erläuterungen könnte sich fälschlicherweise wie eine Verschwörungstheorie anhören. 

 

Für mich persönlich ist dieser Textbeitrag eine Art abschließende Beschäftigung mit dem Thema. Alles Weitere müssen Sie als PatientInnen für sich klären und die bundesdeutschen und europäischen Gerichte sind gefordert.

 

Ihr WD  September 2023

 

 

Wilfried Deiß, Hausarzt, Siegen

 

Dauer-Demokratie-Defizit-Digitalisierung:

Von der Elektronischen Gesundheitskarte 2005 (eGK) zum geplanten GesundheitsDaten-NutzungsGesetz 2023 (GDNG)  

und zum Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS): 

 

„PATIENTEN-PERSPEKTIVE: 

ALLES ANDERS ALS ANGENOMMEN“ 

 

(Version September 2023. Das Bundeskabinett hat soeben Gesundheitsminister Lauterbachs  Digital-Gesetz (DigiG) und Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) zugestimmt.

 

Zusammenfassung: Die Historie der deutschen Digitalisierung des Gesundheitswesens offenbart durchgängig einen eklatanten Mangel an Demokratie. Die Schritte und Hintergründe werden im Folgenden für interessierte Patientinnen und Patienten dargestellt. 

Das HAUPTZIEL der Gesundheitswesen-Digitalisierung ist NICHT die Verbesserung der Gesundheitsversorgung, sondern die Anwendung von Datenverwertungs-Technologien auf die kompletten Krankenakten von Patienten. Dies lässt sich an der Schwerpunktsetzung des Megaprojektes „Telematikinfrastruktur“ deutlich erkennen. Die Datentechnologien, die von Google/Facebook/Amazon auf Suchanfragen/ Kommunikationsverhalten/ Einkaufsverhalten seit etwa 20 Jahre angewendet werden, sollen nun zur Analyse und Verwertung von „Gesundheitsdaten“ dienen.

 

Ab 2005: Die Elektronische Gesundheitskarte / eGK

Das Projekt eGK wird vorgestellt. Die bisherige Versichertenkarte wird durch die eGK abgelöst. Die Kommunikation im Gesundheitswesen soll verbessert werden. Ärzte sollen rund um die Uhr Zugriff haben können auf die Krankenakten ihrer PatientInnen. Nur nebenbei wird der unverständliche und keinerlei Aufmerksamkeit erregende Begriff Telematik-Infrastruktur (=TI) erwähnt. Jahrelang glaubt die große Mehrheit der Versicherten, in Zukunft solle die persönliche Krankenakte „auf der Karte“ gespeichert werden. 

Es ist anders: der Kern des Projektes ist von Anfang an eine dauerhafte, zentralisierte Speicherung der Patientendaten in einem bundesweiten Netzwerk (der Begriff „Cloud“ war 2005 noch nicht gebräuchlich). 

Wegen der Risiken für das Arztgeheimnis haben sich bis 2007 bereits 700.000 Patienten in einer Unterschriftenaktion „Stoppt-die-eCard“) gegen Zentrale Speicherung ausgesprochen.

 

2010 - 2016: Wegen katastrophalem Konzept und technischen Problemen ist das Projekt fast gescheitert. Einzig erkennbare Änderung bis dahin: die bisherige Versicherungskarte heisst nun eGK= Elektronische Gesundheitskarte und hat ein (qualitativ sehr schlechtes) Passfoto. Die neue Karte enthält aber bereits den „Schlüssel“ für das Mega-Netzwerkprojekt TI.

 

2015: Das Buch „App vom Arzt“ vom späteren Gesundheitsminister Jens Spahn und zwei Co-Autoren erscheint. Darin ist der weitere Weg der Digitalisierung vorgezeichnet inklusive der erforderlichen Gesetzgebung.

 

Ab 2017: Die Datenautobahn

Das beinahe totgesagte Vernetzungsprojekt eGK/ Telematik wird unter Gesundheitsminister Spahn wiederbelebt. Fortan ist von einer Datenautobahn für das Gesundheitswesen die Rede, welche sämtliche Kommunikationsprozesse erleichtern und vereinfachen soll. Auf den Erklärvideos der inzwischen dem Bundesgesundheitsministerium unterliegenden Betreibergesellschaft gematik werden symbolisierte Autobahnen und Handys abgebildet, aber keine Mega-Datenserver. Seitdem glauben viele Krankenversicherte, eRezepte, eArbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen, eMedikationspläne, eArztberichte, Röntgenbilder, Laborwerte werden zwar nicht mehr wie zuvor geplant auf der eGK, sondern nun „auf dem Handy“ gespeichert. 

Es ist anders: die „Datenautobahn“ ist ein Mega-Netzwerkprojekt, aufgebaut von der Bertelsmann-Tochter Arvato. Es verbindet die Server der Krankenkassen mit den IT-Systemen der Krankenhäuser, den Praxiscomputern der Ärzte und weiteren Akteuren und bildet eine gigantische Cloud für das Gesundheitswesen. Da die Kassen selbst nicht die entsprechenden Servertechnologien aufbauen können, machen das Firmen wie IBM, Bitmarck, RISE. In dieser Cloud werden die sensibelsten Informationen, die es über Menschen gibt, gespeichert. Das Arztgeheimnis ist die Voraussetzung für das Arzt-Patient-Verhältnis. 

Um das deutlich zu machen, spreche ich nun nicht mehr von Gesundheitsdaten-Cloud (weil es nicht nur um Blutdruckwerte und Laborwerte geht, sondern um komplette Krankengeschichten mit allen persönlichen Details), sondern von KrankenAktenCloud.

 

Die elektronische Patientenakte / ePA

Die ePatientenakte gilt als „Königsdisziplin“ der Digitalisierung des Gesundheitswesens, weil sie die sensibelsten Informationen über Menschen enthält. Arztbriefe sind in Freitext formuliert und damit sehr viel detaillierter und persönlicher als alleinige schematisierte Diagnosen. Hüter Ihrer Krankenakte ist bislang der Hausarzt. Er ist rechtlich für die Aufbewahrung und den Schutz der Krankenakte (Ärztliche Schweigepflicht!) verantwortlich. Diskutable Grundidee: Zur Verbesserung der jederzeitigen Verfügbarkeit bei anderen ÄrztInnnen sollen mit Ihrer Zustimmung Kopien der Arztberichte in die Cloud geladen werden. Die Mehrheit der PatientInnen ist zwar skeptisch bezüglich zentraler Speicherung. Aber die ist ja freiwillig. 

Sie als zustimmender PatientIn stellen sich vor: die Arztbrief-Textdateien vom Hausarzt sind dann eben auch in der Gesundheitsdaten-Cloud, hoffentlich bestmöglich gesichert. Sie dienen dort NUR zur Information von anderen mich behandelnden Ärzten. Akzeptabel wäre auch Bereitstellung für konkrete medizinische Forschungsprojekte, wenn ich als Patient gefragt werde und zustimme.

Es ist anders: Zwar sind auch die von ÄrztInnen frei formulierten Text- oder pdf-Dateien in der Cloud. Aber zur ePA gehört noch etwas Anderes. Der frei formulierte Text wird nämlich durch  METADATEN ergänzt (mehr dazu unten). Diese Metadaten sind wie eine Ansammlung von Stichworten, die den ursprünglichen Arztbrief zwar nicht exakt abbilden, aber sehr schnell durch Algorithmen bzw. „Künstliche Intelligenz“ verwertbar machen. Das, was ePA genannt wird, sind also einerseits ausformulierte Textdateien, andererseits massenhaft Metadaten (digitale Stichworte ergänzend zu Ihren Arztbriefen) in Datenbanken, die im Übrigen an ganz unterschiedlichen Stellen gespeichert sein können. 

Man könnte es vereinfacht so ausdrücken: Sie als Patient existieren in der KrankenAktenCloud erstens als konkreter, namentlich bekannter Patient ( —-> Frau Hanna Höchst-Persönlich) mit allen in Arztberichten enthaltenen Details.

Zweitens gibt es von Ihnen eine Metadaten-Version. Dabei ist ihr Name nicht vermerkt, sondern pseudonymisiert. Sie heißen in dieser Version „Frau X. von Ungefähr“. Diese Version enthält also Pseudonym und unzählige Stichwort-Metadaten über Sie. Diese Informationen sind zwar „unscharf“, aber stammen dennoch aus Ihrer Original-Krankengeschichte. 

Wichtig zum Verständnis: diese Unscharf-Version gilt rechtlich als NICHT-PERSONENBEZOGEN und fällt daher nicht unter die Regeln der DSGVO/ Datenschutzgrundverordnung. 

Prinzipiell könnte noch eine vollständig anonymisierte Version existieren, „A12B34C567“. Die ist aber für Datenverwertung unbrauchbar, weil zumindest Geschlecht, Alter, Wohnregion für sinnvolle Datenanalysen unbedingt erforderlich sind. 

 

Weiter geht es mit Patientenerwartungen und Realität: 

Als technisch interessierter Patient stelle ich mir meine ePA so vor:

Wenn ich der ePA NICHT widersprochen habe, dann findet sich irgendwo in den Festplattenspeichern der KrankenAktenCloud ein Speichersegment, auf dem alle meine Arztberichte, Hausarztunterlagen, Facharztberichte, Krankenhausberichte zusammen an einem Ort gespeichert sind, damit jeder mich behandelnde Arzt mit meiner Erlaubnis schnell und einfach darauf zugreifen kann. 

Es ist anders: Ihre ePA ist KEIN Festplattensegment, sondern eher eine SOFTWARE in Verbindung MIT IHNEN PERSÖNLICH ZUGEORDNETEN DATENBANKEINTRÄGEN. Damit können sehr schnell alle zu Ihnen gehörigen Einträge in der Cloud gefunden werden, auch wenn die Einträge an ganz unterschiedlichen Stellen stehen. Je nach Fragestellung wird die Antwort auf dem Computerbildschirm darstellt oder unmerklich im Hintergrund weiter verarbeitet. (DMS = Dokumentenmanagement-System).

Die ePA ist also keine elektronische Akte im herkömmlichen Sinne, sondern ein Ihnen zugehöriger Eintrag in einem Dokumenten-Management-System plus zugehörige Datenbanken plus Dokumentensammlungen. Je nach Fragestellung erfolgt die Auswahl der gewünschten Daten unterschiedlich. So könnte etwa nach allen Informationen von Frau Hanna Höchst-Persönlich gefragt werden. Die Antwort wäre die komplette, ausformulierte Krankenakte. Oder nach allen Daten von Frau X. von Ungefähr. Die Antwort wären dann alle Stichworte/Metadaten, die aus Ihrer ursprünglichen Akte von Algorithmen kreiert wurden.

 

Wenn eine neue Technologie gut funktioniert und im Alltag nützt, dann setzt sie sich mit der Zeit von allein durch

Da haben Sie als PatientIn recht. Ihre Ärzte denken ganz ähnlich: 

Es ist anders: seit 2019 zahlen niedergelassene ÄrztInnen 2,5% Strafe/ Honorarabzug, wenn Sie den TI-Anschluss „verweigern“. Noch immer 5-10% der Ärztinnen nehmen das in Kauf, weil ihnen das Arztgeheimnis wichtig ist. Umgekehrt finden Sie kaum einen Arzt, der sich aus Überzeugung hat anschließen lassen. Für Ärzte wird die diese Digitalisierung also seit den Spahn-Gesetzen von 2019 unter Zwang durchgesetzt. 

 

Sie denken: Die ePA ist für PatientInnen freiwillig 

Mit diesem Argument wird seit Jahren jegliche Kritik an der zentralen Speicherung abgewiegelt, nicht nur von den Befürwortern, auch von Gerichten. Sie als Patient müssen ja nicht JA sagen, wo also ist das Problem? So zumindest war der Stand bis 2022. Bis dahin galt Opt-In: Sie hatten also die Option/ Möglichkeit, aktiv JA zu sagen (=Zustimmungslösung). Es sagten aber zu wenige JA. Weniger als 1% der Versicherten hatten bei Ihrer Krankenkasse die Nutzung der ePA beantragt. 

Es kam also: In den aktuellen Gesetzesvorlagen (im Koalitionsausschuss gerade bestätigt, demnächst im Bundestag) ist aus Opt-In ein Opt-Out (=Widerspruchslösung) geworden. Das heisst, wer schweigt, hat zugestimmt. Wer NICHT NEIN sagt, hat zugestimmt. Wer noch gar keine Ahnung hat, worum es geht, was ja für die Meisten gilt, hat auch zugestimmt. In der Öffentlichkeit ist das noch nicht angekommen. PatientInnen glauben weiterhin an die zugesicherte Freiwilligkeit. Gesetzlich wirksam und verpflichtend soll die Widerspruchslösung ab Januar 2025 sein.

 

Sie denken: Bevor die ePA eingeführt wurde, waren noch keinerlei Diagnosen und sonstige Medizinischen Informationen von mir in der KrankenAktenCloud.

Es ist anders: seit Ende 2022 sind die Server der Krankenkassen gesetzlich geregelt mit der KrankenAktenCloud verbunden worden. Nun müssen Sie wissen: seit 2000 besteht für Ärzte die Pflicht, Diagnosen zu verschlüsseln. Das heisst, jede bei Ihnen gestellte Diagnose (vom Schnupfen über die Krebserkrankung bis zur Depression) wird zusätzlich mit dem ICD-Code versehen. ICD = International Classification of Diseases. Ein Grippaler Infekt heißt dann J06.9G. Ein früher durchgemachter Herzinfarkt I25.2 , beispielsweise. Es geht um tausende von Codes für tausende somatische und psychische Krankheiten oder für Folgen von Krankheiten.

Diese ICD-Codes zu jedem Patienten und zu allen behandelten Krankheiten werden seit 2000 mit der Quartalsabrechnung über die Kassenärztlichen Vereinigungen an die Krankenkassen versendet und seitdem dort gespeichert. Rechenbeispiel: 40.000 Hausarztpraxen. 1000 Patienten pro Quartal. Pro Patient 2 Diagnosen pro Quartal. Macht schon mal 80.000.000 Diagnosen pro Quartal. Das jetzt noch hochgerechnet auf 23 Jahre. Es wurden also schon viele Milliarden ICD-Codes an Krankenkassen übermittelt. Klar, das meiste wiederholt sich ständig. Aber es sind eben ALLE Ihre Diagnosen dabei. Deshalb war und ist der Versand der ICD-Codes auch immer verschlüsselt, wegen Arztgeheimnis. Bisher waren diese Daten nur bei Ihrer Krankenkasse und niemand sonst hatte Zugriff. Dieser Datenbestand wurde also 2022 OHNE IHR WISSEN in die KrankenAktenCloud überführt. (Oder hat Ihnen Ihre Krankenkasse eine Mitteilung gemacht?).

 

Sie denken: Wenn ich sofort oder nachträglich meine Möglichkeit zum Opt-Out nutze, weil ich die ePA nicht will oder nicht mehr will, werden alle Bestandteile des Datensystems und Speichersystems der ePA gelöscht.

Es ist anders: Wegen der gesetzlich geplanten Opt-Out- Regelung (= Widerspruchslösung) wird zunächst automatisch die ePA für Sie eingerichtet. Dadurch, dass bereits für jeden Versicherten Abrechnungsdaten von den Krankenkassen an das Forschungsdatenzentrum beim BMG weitergegeben worden sind existiert bereits ein Daten-Rahmen und personalisierte Datensätze, verknüpft mit Ihrer einmaligen Versicherten-ID.

 

Sie denken: Meine ePA KANN von mir als  Patient für die Forschung freigeben werden

Wortschöpfung der gematik: die „Freiwillige Datenspende für die Forschung“. Sie als Patient denken: nun gut, ich bin Diabetiker, meine Krankenakte ist in der Cloud. Möglicherweise werde ich für ein Diabetes-Forschungsprojekt konkret angefragt. Dem kann ich durch Zustimmung meine Daten zur Verfügung stellen. 

Es ist anders: Die Gesetzesvorlagen für das DigiG und vor allem für das GDNG bedeuten eher eine Generalvollmacht zur Verwendung Ihrer Daten. Und es geht nicht nur um medizinische Forschung, sondern um Forschung in anderen Gebieten sowie um Versorgungsforschung der Krankenkassen, und es geht um die „Gesundheitswirtschaft“. Die Forderungen der Industrie (insbesondere der Pharmazeutischen) zur Erleichterung der Verwendung von Gesundheitsdaten häufen sich. Anträge auf Datenbereitstellung können gestellt werden, wenn es sich ausdrücklich um „Forschung“ zu Gesundheitsfragen handelt. Wie es aktuell aussieht, könnten auch Google, Microsoft (international SEHR stark engagiert bei Gesundheitsdaten!) und Amazon erfolgreich Anträge stellen. 

 

Sie denken: Die ePA wird nur von Ihren Ärztinnen und Ärzten gelesen

Üblicherweise werden Arztberichte nur von ÄrztInnen und den betreffenden PatientInnen gelesen. Sie als Patient und ePA-Nutzer denken: da ändert sich ja nicht viel, andere mich behandelnde Ärzte kommen nun leichter und schneller an schon vorhandene Bericht. Ihre einzige Sorge ist die Datensicherheit in der Cloud vor Hackerangriffen. Man hört ja inzwischen ständig von Diebstahl von Gesundheitsdaten. Hunderte Millionen Krankenakten wurden inzwischen weltweit gehackt.

Es ist anders: In Zukunft wird Ihre Krankenakte auch von Maschinen gelesen. Jetzt wird es kompliziert und ich hoffe, dass ich komplexe technisch-digitale Zusammenhänge verständlich ausdrücken kann. Seit dem Jahrzehnt von 2000 bis 2010 ist von Web 3.0 die Rede und damit von Semantischer Datenverarbeitung (für Interessierte: Wikipedia „semantic web“). Nach offizieller Lesart geht es darum, die Interaktion von Mensch und Computer zu verbessern. Damit das gelingt, müssen Computer besser die „Bedeutung“/Semantik von Worten erfassen. Menschen erkennen sofort den Unterschied zwischen der Stadt „Bremen“ und einem Schiff namens „Bremen“. Computern muss man das mühsam beibringen. Das ist der Kern der semantischen Datenverarbeitung: wir wird Schrift maschinenlesbar?. Stellen Sie sich das nun für medizinische Fachbegriffe und laienhafte Worte für Krankheiten vor. Wie können all diese unterschiedlichen Worte oder Umschreibungen passenden Bedeutungen/ Begriffen zugeordnet werden? Und warum das alles? Die Antwort ist einfach: Damit die Verarbeitung durch Algorithmen möglich wird. Nicht zufällig hat im Jahr 2021 Microsoft für 20 Milliarden Dollar die Firma Nuance übernommen, spezialisiert auf medizinisches Vokabular und Spracherkennung. Zukünftig gilt: Nicht nur Ärztinnen und Ärzte (die lesen die Akte von Frau Hanna Höchst-Persönlich), vor allem Algorithmen werden Ihre Arztberichte lesen (die lesen die Meta-Daten von Frau X. von Ungefähr). 

Die zweite Technische Voraussetzung ist, das weltweit unterschiedliche Computersysteme sich untereinander unkompliziert austauschen können. Das nennt man die „Interoperabilität“ der Systeme. 

Das war der komplizierte Teil. Sie wissen jetzt: damit das Web 3.0 für Gesundheitsdaten erfolgreich und deutschlandweit (=KrankenAktenCloud) / europaweit (EHDS= europäischer Gesundheitsdatenraum)/ weltweit (= ?) gut arbeiten kann, benötigt es SEMANTISCHE INTEROPERABILITÄT. 

 

Sie denken: Der Kern der Telematik-Infrastruktur sind frei formulierte Arztberichte und deren Bereitstellung für die Akteure im Gesundheitswesen für eine bessere medizinische Versorgung

Es ist anders: der Kern der digitalen Prozesse ist die Anwendung der semantischen Datenverarbeitung auf Gesundheitsinformationen und die Produktion von Metadaten, die von Algorithmen verarbeitet werden können. „Künstliche Intelligenz“ kann also nicht „Lesen“ im menschlichen Sinne, sehr wohl aber sehr schnell ßauf der Basis von Metadaten, die durch Semantische Datenverarbeitung und verbesserte Interoperabilität gewonnen wurden, Datenanalysen zu unterschiedlichen Fragestellungen durchführen. Die Ergebnisse sind NICHT streng wissenschaftlich, sondern eher Aussagen über Wahrscheinlichkeiten. Ernstzunehmende Wissenschaft ist damit nicht zu machen, aber sehr gute Geschäfte.

Kurzfassung: Semantische Datenverarbeitung und Metadatenproduktion sind die Voraussetzung für die digitale Verwertung von frei formulierten Arztberichten.

 

Sie denken: Dann werden doch wohl diese Semantischen Technologien nur bei den PatientInnen angewendet, die Ihre ePA für die Forschung frei gegeben (gespendet) haben

Es ist anders: Die Anwendung der semantischen Datenverarbeitung auf nahezu alle im Gesundheitswesen anfallenden Daten ist das Grundprinzip des Mastersystems TI und damit der KrankenAktenCloud. Das fängt schon in der Arztpraxen an. Ohne Wissen der allermeisten ÄrztInnen werden bereits in der Praxissoftware die Patientendaten automatisiert vorstrukturiert, siehe weiter unten. 

Demnach: Wer als Patientin Frau Hanna Höchst-Persönlich sein Opt-Out nutzt, ist NICHT frei von Datenverwertung. Zumindest die Metadaten-Verarbeitung von Frau X. von Ungefähr läuft weiter. Sie darf es auch nach aktuellem rechtlichen Stand, denn diese „unscharfe“ Datenversion gilt als Nicht-personenbezogen und Nicht-Re-identifizierbar und unterliegt somit nicht der DSGVO. 

 

Sie denken: Das was Arzt/ Ärztin an Notizen schreibt, bleibt dort, wo es ist, nämlich in der jeweiligen Praxis, egal ob Verwendung der ePA oder Opt-Out.

Es ist anders: Die Krankenakte auf dem PC des Arztes ist NICHT vor Metadatengewinnung geschützt. Man nennt das „Datengewinnung aus den Primärsystemen“ in Hausarztpraxen, Facharztpraxen, Krankenhäusern. Insbesondere mit der Datentechnologie FHIR werden schon dort die medizinischen Informationen „vorstrukturiert“ und für die weitere Verarbeitung in der KrankenAktenCloud. Damit sollen besonders „hochwertige“ Daten entstehen. Selbstverständlich in pseudonymisierter Form. Praxisinhaber können nichts dagegen machen, die Verfahren werden mit Hilfe der Updates der Praxissoftware automatisch eingeführt. Die allermeisten Praxisinhaber wissen bisher nichts von diesen Plänen und auch wenig von Inhalten von Updates. 

Zudem hat Lauterbach Pläne eine „automatisierte ePA“ angesprochen, damit Ärzte keine wertvolle Zeit damit verlieren, Arztberichte für ihre Patienten in die ePA übertragen müssen. Die Daten von Rezepten und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen landen sowieso schon automatisch in der KrankenAktenCloud. Mittelfristig sollen also auch Facharztberichte und Krankenhausberichte automatisch in Ihrer ePA landen. Die weiteren Vorbereitungen für dieses Projekt werden aktuell mit dem DigiG und dem GDNG getroffen. Die Referentenentwürfe der beiden Gesetze liegen seit Frühjahr 2023 vor. 

Der IT-Spezialist R.D. Lenkewitz schreibt: „Es geht um die grundlegende, automatisierte Erfassung aller Daten, die bei den Leistungserbringern erzeugt werden.“

 

DigiG:

! Schafft die Grundlage, Gesundheitsdaten auch in einer Cloud verarbeiten zu dürfen.

! Gründung Kompetenzzentrum für Interoperabilität der Systeme

 

GDNG:

! Änderung der Zuständigkeit für Datenschutz im Gesundheitswesen

! Vereinfachung des  Datenschutzrechtes

! Koordinierungsstelle für Datennutzung beim BfArM, incl. Metadaten-Katalog

! Eine Unterscheidung zwischen gemeinwohlorientierter und kommerzieller Forschung sieht der GDNG-Entwurf nicht vor.

 

Somit ist die Telematik-Infrastruktur/ KrankenAktenCloud nebenbei AUCH ein Bereitstellungs-Technologie für Arztberichte für den Alltag in Praxen und Krankenhäusern. Vor allem aber ist die TI eine gigantische Produktionsstätte für Patienten-Metadaten. Diese werden AUCH für die medizinische Forschung verwendet werden, wahrscheinlich aber weit überwiegend für andere Zwecke der „Gesundheitswirtschaft“. Dies gilt nicht nur für „datenspendende“ PatientInnen, sondern für alle.  Zudem sind die Daten als Trainingsmaterial für die KI / Künstliche Intelligenz sehr gefragt.

 

Deutsches Ärzteblatt vom 20.11.2020:S. A 2268

„Ein Europäischer Datenkosmos - Die EU will ein Netzwerk für Gesundheitsdaten der Mitgliedsstaaten schaffen. Noch könnte man den Großmächten China und den USA bei der Entwicklung solcher Systeme zuvor kommen.“

„Mit einer modernen Sicherheitsstruktur soll es künftig möglich sein, dass viel mehr Dienste und Anbieter sich mit ihren Produkten in der TI bewegen können.“

 

Lauterbach: „Wir haben schon jetzt eine Menge Daten, die aber in getrennten Silos liegen und nicht miteinander verknüpft werden können: in den Krankenhäusern, bei den Krankenkassen, dem Krebsregister, in Genom-Datenbanken, künftig aus der digitalen Patientenakte. Der Grundgedanke ist, dass diese Daten in pseudonymisierter Form für Forschungszwecke kombiniert werden können. Das können wir bisher nicht machen, dadurch fallen wir im Vergleich zu anderen Ländern zurück.“

 

Lauterbach in heise online 30.8.23 / Elektronische Patientenakte für alle kommt 2025:

Sein Wunsch: "Dass wir KI – am besten 'Made in Germany' – einsetzen, um in der Entwicklung von Arzneimitteln und Medizinprodukten wieder spitze zu werden." 

 

Herr Lauterbach: bitte um verständliche Antwort an die Patienten: Mit welchen Daten soll denn die Künstliche Intelligenz nun eigentlich trainiert werden? 

 

 

Zurück zu Ihrer Patienten-Perspektive: Alles anders als angenommen. Gibt es ein anderes Projekt dieser Größenordnung und Bürgerrelevanz mit einem vergleichbaren Mangel an Transparenz und Demokratie?

 

SIND IHNEN DIE NACHFOLGENDEN FRAGEN JEMALS GESTELLT WORDEN, ZUM BEISPIEL VON IHRER KRANKENKASSE? 

ODER WURDEN DIESE FRAGEN IN DER PRESSE ODER IN DEN MEDIEN AUSREICHEND DISKUTIERT, SOWIE ES EINER REPRÄSENTATIVEN DEMOKRATIE UND MÜNDIGEN BÜRGERN WÜRDIG WÄRE? 

* Möchten Sie, dass Ihre Krankenakte außer bei Ärzten auch in einem bundesweiten und später europaweiten Computernetzwerk (EHDS) gespeichert wird? 

* Sind Sie einverstanden, wenn ungefragt pseudonymisierte Metadaten aus Ihrer Krankenakte produziert werden zwecks Verwendung für „Forschung und Gesundheitswirtschaft“ und als Trainingsdaten für KI / sog. Künstliche Intelligenz?

* Und die allgemeine Frage an Demokratie und Gesellschaft: Gehören die dem Arztgeheimnis unterliegenden persönlichsten Daten der Bürger in eine Cloud? Auch nicht in Pseudonymisierter Form? 

 

Überspitzt —->  Folgendes Szenario könnte eintreten: in ein paar Jahren wird die ePA im medizinischen Alltag kaum verwendet, vor allem wegen mangelnder Praktikabilität im Alltag. 

Aber die Datengewinnung und Datenverwertung mit Metadaten von 80 Mio. Bundesbürgern läuft dennoch ungebremst. Dafür sorgt die automatisierte, durch semantische Interoperabilität ermöglichte und algorithmisch durchgeführte Metadatenproduktion.

Die immense Datenproduktion dient manchmal auch der medizinischen Forschung im engeren Sinne als unscharfes Rohmaterial. Vor allem aber ist das ein gigantisches Geschäft, auch wenn es „nur“ auf Ungefähr-Daten beruht. Das beweisen Google, Amazon und viele andere seit 15-20 Jahren. Nun geht es aber nicht um Suchmaschinenverhalten und Einkaufsverhalten, sondern die  Basis sind die Milliarden von Metadaten, automatisiert gewonnen aus den vollständigen Krankenakten einer kompletten Bevölkerung. 

 

PatientInnen! Ihre Meinung? Überlegen Sie: Welche Firmen/ Sparten könnten sich für diese Daten am meisten interessieren und welche Nachteile ( oder Vorteile?) könnte das für SIE und ihre Kinder und Enkelkinder in Zukunft haben? Im GDNG steht, dass Ihre „Gesundheitsdaten“ 100 Jahre gespeichert bleiben sollen. 

 

 

 

Wilfried Deiß

Hausarzt

September 2023